Welches Potenzial steckt in der Angst, etwas nicht zu können?

1.Juni 2022

Ich beschäftige mich seit einiger Zeit mit unseren Ängsten. Da bietet die aktuelle Zeit einige Beispiele. Und zwar täglich! Angst vor Krieg, vor Krankheit, vor Ausgrenzung, vor Verlust des Erreichten, Gewonnenen…

Im Business kenne ich schon länger die Angst, Fehler zu begehen, nicht perfekt, stark, schnell genug zu sein, vor anderen nicht sprechen zu können, nicht anerkannt zu werden etc.

Hinter vielen Ängsten stecken alte Glaubenssätze und dahinter meistens alte Erfahrungen, nicht selten Verletzungen. Und das Gute daran ist: Davor waren Sie noch der Mensch mit den Ihnen eigenen Potenzialen. Die waren voll entfaltungsfähig und -willig.   Ohne die gesprochenen STOPP-Schilder im Denken, Fühlen und Handeln, welche dafür gesorgt hatten, diese natürlichen Kompetenzen nicht zu leben, zu verstecken, zu missachten:

Pass auf!
Lass das!
Hör auf zu spinnen!
Sei nicht so vorlaut!
Wenn du nicht sofort…dann…!

So haben unserer Lebensbegleiter der ersten Jahre, meist unabsichtlich und unreflektiert, dafür gesorgt, dass wir regelkonform leben, doch nicht so, wie wir wirklich sind. Wir haben gelernt, dass manche unserer Fähigkeiten und Eigenschaften „gut“ sind, gelobt wurden und uns so Liebe und Wertschätzung brachten. Das nennen die Experten Resonanzlernen. Andere Handlungen und Äußerungen wurden abgelehnt und sogar bestraft, obwohl sie auch unserem Wesen entsprachen. Dabei spricht man von Dissonanzlernen. Unser Gehirn hat diese Erfahrungen mit guten oder schlechten Gefühlen verknüpft. Und natürlich wollten wir den schlechten Gefühlen aus dem Weg gehen. Also sind wir, ausgerüstet mit diesen Werten, ins Leben gegangen mit der inneren Einstellung „So bin ich richtig“. Seitdem haben wir meistens Angst, Dinge zu sagen, zu tun, zu erleben, die uns schlechte Gefühle machen. Die uns vermeintlich Missgunst, Tadel, schlechte Bewertungen, Niederlagen oder sogar Feinde einbringen. Und das heißt ab jetzt für uns: egal, ob wir z.B. gerne Abenteuer erleben bzw. neugierig auf alles Neue sind, ob wir kreativ sind („spinnen“), ob wir uns gerne vor anderen darstellen (vorlaut sind) etc., wenn all das mit einem „schlechten Gefühl“ gespeichert ist, sind wir „falsch“. Wir unterdrücken diese Wesenszüge, damit wir „richtig“ sind

Wir haben also unsere Rollen für das Leben gefunden, die zusammen eine Komfortzone bilden, in der es uns gut geht. Meistens jedenfalls. Immer dann, wenn wir vor besonderen Herausforderungen stehen, wir also den Kopf ein wenig aus dieser Wohlfühlzone heraustrecken (eventuell dazu auch animiert werden), taucht eine diffuse Angst auf: „Schaffe ich das?“. Je nachdem welches Gefühl sich aus der Konditionierung der Kindheit bzw. aufgrund unserer Erfahrungen meldet, werden die Ängste größer oder verringern sich. Wir fühlen uns fähig oder gehemmt. Wir trauen uns, diese Herausforderungen anzugehen. Oder auch nicht.

Dabei können wir zunächst eine Form von Angst erkennen, die Petra und Rolf Dannemeyer „sekundäre Angst“ nennen. Sie unterscheidet sich nach deren Definition von der eigentlichen Angst, nämlich so zu sein, wie wir als Wesen mit all unseren Potenzialen und Ressourcen sind.

Die Zweite Angst- Die Angst, Opfer zu werden

Diese Angst wird uns immer dann bewusst, wenn wir vor einer für uns schwer lösbaren Aufgabe, einer Herausforderung stehen. Wenn wir etwas tun sollen, von dem wir glauben, wir schaffen das nicht, weil wir das noch nie vorher (gut) gemacht haben, dafür nicht geeignet sind etc.

Z.B. befürchtet ein Verkäufer, dass er einen sehr kritischen, abweisenden und nörgelnden, aber wichtigen Kunden, nicht überzeugen kann und versucht nun seinerseits, den Kunden schnell wieder loszuwerden. Entweder durch ebenfalls abweisendes, genervtes Verhalten oder durch schnelle Flucht aus dem Kundengespräch. Die Angst: er befürchtet, nicht zu bestehen, nicht schlagfertig, nicht überzeugend genug zu sein, um mit diesem Kunden ins Geschäft zu kommen. Das wiederum schmälert seinen Erfolg und seine Reputation im Unternehmen. Er hat Angst, Opfer zu sein. Das gleiche gilt, wenn Sie eine Präsentation ablehnen, weil Sie Angst vor Ablehnung aus dem Publikum haben. Im Grunde genommen gehört auch die Angst, zu spät zu kommen, zu diesen am meisten bewussten Ängsten.

Wege aus der zweiten Angst
Zwei Reflektionen können helfen, diese Ängste zu bearbeiten:

  1. Von wem oder was befürchten Sie, Opfer zu sein?
  2. Und wie wahrscheinlich ist das tatsächlich der Fall?

Da helfen auch die vier Fragen aus The Work von Byron Katie: Ist das wirklich wahr?

So bekommen Sie Klarheit, ob diese Angst wirklich berechtigt ist. Sind Sie wirklich das Opfer? Was tragen Sie selbst dazu bei, dass diese Angst bestehen bleibt? Was können Sie ändern?

Im Falle des Verkäufers ergab diese Analyse, dass er sich selbst in diese Angst hineintreibt. Schon im Vorfeld stellte er sich die angstauslösende Situation mit dem Kunden in den grauesten Farbtönen vor. Erst als er Gegenmaßnahmen traf, z.B. entspanntes Atmen einübte und Wordings erarbeitete, um auf die (selbst erzeugten) Irritationen einzugehen, ging es ihm mental besser. Die kommenden Kundengespräche verliefen angstfreier und damit ruhiger und konstruktiver.

Im Grunde genommen meldet sich unsere Schattenseite in Form dieser Angst. Sie ist illusionär. Denn diese Ängste sind nach außen verschoben, damit wir die in unserer Kindheit erlebten Enttäuschungen, unser Potenzial zu leben, nicht mehr spüren. Sie sind eher kognitiver Art, wenngleich sie mit Emotionen assoziiert sind. Denn diese Ängste sollen uns ja schützen. Daher werden sie auch meistens im Coaching bearbeitet. Es werden Strategien erarbeitet, damit die Ängste weniger stören. Die grundsätzliche Angst, die aus unserem Unbewussten gespeist wird und abgespalten wurde, wird davon nicht wirklich berührt.

Die zweite Angst ist ein Symptom der ersten!

Die erste Angst - Die Angst, unseren Wesenskern zu leben

Wenn wir als Kind öfter hören (und spüren) „Pass auf“, vielleicht in Kombination mit „Das kannst du nicht“, dann kann es passieren, dass sich unser Selbstwert darauf einstellt, für diese Handlungen nicht geeignet, nicht gut genug zu sein. Andere Einschränkungen bzw. Glaubenssätze ergeben sich aus Äußerungen wie „Was sollen denn die anderen denken“ oder „Dein Bruder /Freund ist viel besser…“. Nach und nach beziehen wir diese Bewertungen unserer Person nicht nur auf einzelne Erfordernisse, sondern verallgemeinern sie zu unserer Identität. Das ist ein Schutzmechanismus unsrer Psyche. Denn wenn wir von unseren Bezugspersonen nicht für das anerkannt werden, was wir in unserem Wesen sind, dann muss es wohl stimmen, dass wir „falsch“ sind. Also spalten wir diesen Wesenskern, der uns nicht guttut, ab. Wir glauben, nur so sind wir „richtig“.

Und so entsteht paradoxerweise die Angst davor, wir selbst zu sein. Denn das ist ja nicht ok. Diese erste Angst kommt daher aus dem Unbewussten. Der Verkäufer aus dem Beispiel konnte im Coaching erkennen, dass er primär keine Angst vor dem Kunden hat -obwohl ihm das so vorkam und er es an sich und vom Umgang mit anderen Personen kannte, sondern davor, sich auf konstruktive Weise durchzusetzen. Vor seinem wirkliches Potenzial, auf das Verhalten des als „störrisch“ empfundenen Kunden mit Verständnis einzugehen und sich auf etwaige Niederlagen einzulassen. Er hatte ständig vom Vater gehört, dass er nicht vorlaut sein, nicht dazwischenreden soll. Außerdem hatte er stets die Schuld erhalten, wenn mal wieder etwas in der Schule nicht funktionierte. Er hatte also gelernt, sich mit seinen kreativen und souveränen Wesenszügen zurückzuhalten und diese weitgehend zu unterdrücken. Kritik war schmerzhaft, er durfte ihr ja nichts entgegensetzen. Daher wollte er sie im Kundengespräch auf keinen Fall zulassen. Damit war er im Opfermodus gelandet, ohne dass ihm sein volles Potenzial, bedingungslos fremde und eigene Positionen gelten zu lassen und souverän darauf zu reagieren, bewusst gewesen ist. Das wurde ihm früher als widerspenstig ausgelegt und mit Liebesverlust bestraft. Das Ergebnis war in seiner Welt ein „störrischer Kunde“.

Wege aus der ersten Angst - Die Wiederentdeckung des eigenen Wesens

Formulieren Sie Ihre Angst mal anders:
Im Beispiel hatte der Verkäufer Angst davor, vom Kunden abgelehnt zu werden, als inkompetent dazustehen.

Mit folgenden Schritten kann die erste Angst bearbeitet und transformiert werden.

Welche Nachteile hat es, wenn du ein Mensch kritisiert wirst?
Antwort: Ich fühle mich unwohl, nicht stark genug. Ich ordne mich unter und flüchte. Hier ist es oft sinnvoll, Beispiele zu finden.

Und welche Vorteile hätte das, wenn du kritisiert wirst?
Antwort: Ich würde über die Wirkung meiner Worte und Person Bescheid wissen.
Auch hier helfen Beispiele aus der Vergangenheit, diese Vorteile zu spüren.

Verkehre deine Angst ins Gegenteil.
Antwort: Ich habe Angst davor, als stark und kompetent dazustehen.
Jetzt ist es wichtig, in sich hineinzuspüren, ob sich diese Worte (und damit die Angst) stimmig anfühlen. Zusätzlich können Vor- und Nachteile dieser neuen Perspektive auf die Angst eruiert und nachgespürt werden: was verändert sich? Im Falle des Verkäufers wurde dieser sehr nachdenklich und erklärte, dass er immer genau diese Erfahrung gemacht hat, wenn er sich zuhause mit seinen Ideen durchsetzen wollte.

Verwandele jetzt das Gegenteil von dieser ersten Angst in einen positiven Satz.
Antwort: Ich bin kompetent und stark.

Diesen Satz sollte man immer wieder laut, mit unterschiedlich starken Betonungen sprechen lassen. Auch hier ist es wichtig, körperlich und emotional die Stimmigkeit zu überprüfen. Am besten mit Beispielen aus dem Leben. Auch wenn dieser essenzielle Wesenszug nicht ausgelebt werden durfte, mit genügend Zeit zum Nachdenken und-spüren, ggf. auf einer gedachten Zeitlinie, erinnern sich die meisten an „starke Situationen". Auch wenn diese Potenziale „verboten“ und ins Unbewusste abgedrängt wurden, klopfen sie meistens immer wieder an das Tor des Bewusstseins an. Sie sind nach wie vor Teil unseres einzigartigen Wesens. werden dann vielleicht kurz in unser Leben hineingelassen, oft als fremd empfunden, um dann den erlaubten Eigenschaften wieder Platz zu machen.

So konnte sich unser Verkäufer daran erinnern, dass er in der Tat schon für ihn schwierige Gesprächssituationen mit Bravour abgeschlossen hatte. Danach hatte er allerdings ein schlechtes Gewissen bekommen, ob er nicht „zu streng“ gewesen sein. Das kannte er aus seiner Kindheit gut: Er wurde für diese Kompetenz bestraft („Sei nicht so vorlaut“) und ist dann zurückhaltender geworden. Jede Kritik hatte ihn daran erinnert.

Natürlich sind, wie in vielen meiner Beiträge, diese Veränderungsschritte grob in ihrer wesentlichen Funktion beschrieben. Mit ein wenig Übung und -noch mehr Offenheit- können sie gleichzeitig als erste Selbsterfahrung dienen. Für einen tieferen Einstieg empfehle ich das Buch von Petra und Ralf Dannemeyer „Das Potenzial des Inneren Kindes nutzen“. Oder Sie melden sich bei mir, gerne auch für ein entsprechendes Coaching.

Wenn Sie weiter eintauschen wollen, melden Sie sich gerne hier.

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